Annemarie
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Inhaltsverzeichnis
Dienstag, Tag 1 ................................................. 3
Mittwoch, Tag 2 ............................................... 17
Donnerstag, Tag 3 .......................................... 34
Freitag, Tag 4 .................................................. 47
Samstag, Tag 5 ............................................... 63
Sonntag, Tag 6 ................................................ 72
Montag, Tag 7 ................................................. 78
Dienstag, Tag 8 ............................................... 91
Mittwoch, Tag 9 ............................................. 107
Donnerstag, Tag 10 ...................................... 153
Freitag, Tag 11 .............................................. 180
Samstag, Tag 12 ........................................... 211
Sonntag, Tag 13 ............................................ 229
Montag, Tag 14 ............................................. 231
Dienstag, Tag 15 ........................................... 250
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Samstag, Tag 5
Irgendwann und irgendwie scheine ich
eingeschlafen zu sein, denn als ich meine
Augen öffne, ist heller Tag, der Fernseher ist
aus und die beiden Menschen sind fort.
Der Mann wollte ins Sportstudio und in den
Baumarkt, die Frau wollte zu Annemarie,
erinnere ich mich.
Ich bin wieder alleine, jedoch ist das am Tag
nicht schlimm. Hoffentlich vergesse ich den
Film bald wieder. Nie wieder in meinem
Leben, also wirklich nie wieder, sehe ich mir
einen Horrorfilm an. Versprochen!
Die Frage stellt sich, was ich nun mit diesem
Vormittag anfangen soll. Ich könnte nochmal
auf den Dachboden, aber was bringt das? Ich
könnte mir alle Fotos an den Wänden erneut
ansehen, aber dazu habe ich keine Lust. Ich
könnte irgendein Vormittagsprogramm im
Fernsehen anschauen, aber ich kann die
Fernbedienung nicht berühren. Wenn ich
essen könnte, würde ich mir Chips und
Schokolade suchen. Sonst fällt mir nichts ein.
Noch in Gedanken versunken, komme ich
wieder an den Anfang: Ich bin 14 Jahre alt,
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überall hängen Bilder an den Wänden, auf
denen ich bei irgendeiner Aktivität zu sehen
bin und ich kann mich nicht daran erinnern.
Wohl habe ich schon viel erlebt, aber wo und
mit wem?
Ich bin ein ganz mieser Puzzler. So richtig
weit bin ich nicht gekommen.
Äußerst gelangweilt gehe ich auf mein
Zimmer, lege mich aufs Bett und starre an die
Decke. Selbst zum Überlegen oder zum
Puzzleteile sammeln habe ich keine Lust.
Eigentlich ist es ganz schön blöd, dass ich
nichts berühren kann und dass mich niemand
wahrnimmt. In diesem Zustand fühle ich mich
von allen verlassen. Auch wenn die beiden
Menschen da sind, bin ich im Grunde
genommen alleine. Ich kann mit niemandem
reden, ich kann mich mit nichts beschäftigen,
kann nicht fernsehen, kann nicht essen und
trinken, ich kann gar nichts. Doch, ich kann
durch geschlossene Türen schweben, das
können der Mann und die Frau nicht. Das ist
aber auch das Einzige, was ich kann. Sehr
enttäuschend. Und ich kann bei jeder
Unterhaltung der beiden unbemerkt
mithören, doch so berauschend toll ist das
auch nicht.
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Was soll ich dann eigentlich hier? Welchen
Sinn hat mein Leben so? Wenn ich das alles
doch nur verstehennnte.
Langsam fallen mir die Augen zu. Heute
Nacht hatte ich wenig Schlaf. Na dann, so
geht der Vormittag auch vorbei.
Lautes Schluchzen aus dem Flur weckt mich
auf. Das hört sich nach der Frau an.
Vorsichtig strecke ich den Kopf durch die Tür.
Warum vorsichtig? frage ich mich. Es sieht
mich doch sowieso niemand.
Die Frau steht mit einem Putzlappen im Flur
und reinigt die gerahmten Bilder an der
Wand. Auf jedes Glas sprüht sie ein wenig
Glasreiniger und reibt dann die Scheibe
sauber, anschließend wird noch der Rahmen
entstaubt. Sie steht vor dem vierten Bild und
weint fürchterlich. In diesem Moment tut sie
mir sehr leid. Warum putzt sie diese Bilder,
wenn sie sie so traurig machen? Ich würde
das nicht tun. Außerdem sieht sie vor lauter
Tränen nicht, ob das Bild sauberer ist als vor
ihrer Putzaktion.
Nun geht sie zum fünften Bild. Sie holt tief
Luft, zieht die Nase hoch, dann streicht sie
mit einer Hand über das Bild. Im selben
Moment bricht sie wieder in Tränen aus.
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Nachdem sie sich etwas gefangen hat, putzt
sie dieses Bild. So verfährt sie mit jedem
Einzelnen!
Ich verstehe nicht, warum sie das tut. Es ist
doch ganz offensichtlich, dass sie das schier
umbringt. Warum tut sie sich das an? Wie
gerne würde ich zu ihr gehen, sie in den Arm
nehmen und ihr zeigen, dass ich hier bin. Ich
könnte sie trösten, es sind ja schließlich
meine Bilder.
Ich könnte ihr auch erklären, dass alles in
Ordnung ist und sie nicht so bitterlich zu
weinen braucht.
Beim letzten Bild angekommen, verweilt sie
sehr lange. Sie sieht sich wie erstarrt das Bild
an, dann streicht sie wieder darüber und
flüstert: „Warum Annemarie? Warum?“
Hallo!!! Das ist nicht Annemarie, das bin ich
und ich heiße Jennifer!
Das macht doch alles keinen Sinn. Warum
bin ich hier, wenn ich nichts bewirken oder
unternehmen kann? Das ist doch einfach nur
blöd und unfair.
Um die Trauer der Frau nicht länger ertragen
zu müssen, ziehe ich mich in mein Zimmer
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zurück. Mit der Tür zwischen uns höre ich
wenigstens nur noch ein leises Wimmern.
Es hört und hört nicht auf. Wie lange will sie
denn noch vor den Bildern stehen und sich
quälen?
Plötzlich geht die r auf. Mit Staubsauger
und einem Eimer voller Tücher und
Putzmittelflaschen betritt sie den Raum. Ich
kann ganz genau sehen, wie sie zittert. Sie
stellt alles Mitgebrachte auf den Boden und
sieht sich im Zimmer um. Ihre rotgeweinten
Augen sind deutlich zu erkennen.
Langsam geht sie zum Spiegel und nimmt die
darüber geworfenen Kleidungstücke herab.
Sie sieht sie kurz an, dann drückt sie sich die
Wäsche ins Gesicht und schluchzt erneut los.
Warum macht sie das? Am liebsten rde ich
sie ihr wegnehmen. Wieder einmal bin ich
völlig hilflos und handlungsunfähig.
Ihr Zittern verstärkt sich und sie geht
rückwärts in Richtung Bett. Sobald sie das
Bettgestell an ihren Beinen spürt, lässt sie
sich darauf fallen. Dort verharrt sie erst
einmal im Sitzen, dann kippt sie einfach um
und bleibt mit den Wäschestücken ans
Gesicht gedrückt, liegen.
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Unbewusst schwebe ich zu ihr und möchte
ihr über den Kopf streichen. Das gelingt mir
nicht, ich spüre sie nicht und sie mich nicht.
Trotzdem setze ich mich ganz nahe zu ihr. Ich
beginne ein Liedchen zu singen, keine
Ahnung woher ich es kenne, es ist einfach so
in meinem Kopf:
Nicht weinen, nicht weinen! Gleich ist
wieder alles gut!
Das Weinen wird vergehen, dann kommt
neuer Mut.
Klatsche in die Hände! Stampfe mit dem
Bein!
Eins, zwei drei und schon ist alles vorbei!
Nachdem ich es das dritte Mal gesungen
habe, wird das Schluchzen etwas leiser.
Vielleicht srt sie ja doch, dass ich hier bin.
Das wäre schön!!!
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen. In
der Zwischenzeit ist der Mann nach Hause
gekommen und ruft: „Charlotte, bin wieder zu
Hause.“
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Nachdem sie keine Antwort gibt und er sie
unten nicht findet, kommt er die Treppe
hinauf. Er sieht meine geöffnete Zimmertür
und kommt herein. Sobald er die Frau
erblickt, lässt er sich vor ihr auf die Knie
fallen: „Oh, Charlotte, du sollst doch nicht in
Annemaries Zimmer.Er zieht sie hoch und
nimmt sie in die Arme. Sie erschient mir wie
eine menschliche Hülle ohne Muskeln. Völlig
kraftlos lässt sie sich in seine Arme sinken
und beginnt wieder laut zu schluchzen.
Langsam und vorsichtig steht der Mann mit
der Frau auf und zieht sie aus dem Zimmer.
Sie lässt es geschehen. Mit einer Hand zieht
er die Zimmertür zu und nuschelt vor sich hin:
„Ich werde das Zimmer abschließen.“
Er geleitet sie ins Schlafzimmer, nimmt ihr
meine Kleidungstücke aus den Händen und
legt sie vorsichtig aufs Bett. Er streift ihr noch
die Schuhe von den ßen, dann legt er auch
diese behutsam auf die Bettdecke: „Ruh dich
aus. Ich koche dir einen Tee, bin gleich
wieder da.“
Mit einer großen Teetasse kommt er wieder
ins Schlafzimmer und setzt sich an ihre Seite:
„Charlotte, warum tust du dir das an? Das
muss doch nicht sein.“
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Unter Tränen antwortet sie: „Ich dachte, ich
schaffe das.
Der Mann nickt verständnisvoll und streichelt
ihr über den Kopf: „Es wird wieder alles gut.
Lass uns fest daran glauben.“
Auch er hat Tränen in den Augen.
Ich schwebe wieder in mein Zimmer. Der
Anblick der beiden hat sich in meinem Kopf
festgebrannt und ich werde das Bild einfach
nicht los. So viel Trauer! Warum? Ich rde
so gerne helfen, aber ich kann nicht. Mit
schwerem Herzen lege ich mich auf mein
Bett und versuche angestrengt auf andere
Gedanken zu kommen. Das ist nicht einfach.
Immer wenn ich gerade ein anderes Bild im
Kopf habe, zum Beispiel wie ich der Frau
beim Kochen zusehe, tauchen diese
rotgeweinten Augen wieder auf. Oder ich
stelle mir vor, wie wir zu dritt fernsehen, doch
dann sehe ich meine Kleidungstücke in ihren
Händen.
Das macht mich sehr traurig. Ich möchte
nicht, dass diese beiden Menschen so
verzweifelt sind, dazu mag ich sie zu sehr.
Sie sind mir wichtig, umso verständnisloser
ist es für mich, dass ich nicht helfen kann.
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Es wird langsam dunkler, der Abend bricht
herein. Ich habe keine Lust mich zu bewegen
und bleibe einfach liegen. Hoffentlich schlafe
ich bald ein, dann ist auch dieser Tag endlich
vorbei.
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© A. Graner, 2019
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Zur Autorin
Andrea Graner lebt mit ihrer Familie in der
Nähe von Stuttgart. Durch ihre eigenen
Kinder und ihren Beruf als Erzieherin
entstand der Wunsch selbst Geschichten zu
schreiben und die Freude am Lesen
weiterzugeben